Die bayerischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen erneut vor einer gewichtigen Entscheidung. Die Partei muss nach einer äußerst ernüchternden Bilanz wieder deutlich an sozialdemokratischem Bayernprofil gewinnen, andernfalls dürfte Sie es gegen die Populistinnen und Populisten der CSU weiterhin relativ schwer haben. Ihr politisches Credo muss optimiert und das Führungstandem vollständig neu aufgestellt werden. „Für einen Aufbruch der BayernSPD“ lautete der Wiederwahlaufruf zweifellos tatendurstiger Landesvorstandsmitglieder beim letzten Parteitag der SPD in Bayern im Juni 2015. Zu diesem Zeitpunkt hätten nach landesweiten Prognosen immerhin noch knapp zwanzig Prozent der Wahlberechtigten in Bayern der sozialdemokratischen Partei ihre Stimme gegeben. Die bayerische SPD stabilisierte sich, wie bereits in den vorangegangenen Jahren, als stärkste Oppositionspartei, wenn auch auf niedrigem Niveau. Doch keine zwei Jahre später, genauer gesagt im Januar 2017, liegt der zweitgrößte Landesverband der deutschen Sozialdemokratie, der immerhin stolze Persönlichkeiten wie Waldemar von Knoeringen, Käte Strobel oder Wilhelm Hoegner hervorgebracht hat, in einer von Infratest dimap durchgeführten Prognose im Auftrag des Bayerischen Rundfunks bei sage und schreibe nur noch vierzehn Prozent. Ein Prozentpunkt vor den Grünen. Während die Bundes-SPD inzwischen vom Schwung des neuen Vorsitzenden beflügelt wird, kommt die Landes-SPD offenbar weiterhin nicht richtig vom Fleck. Der Abstand der Landesumfragewerte zum Bund ist größer geworden. Gekämpft wird nicht mehr um die Übernahme der Staatskanzlei, sondern um die Oppositionsführerschaft.
Dabei war das Verliererimage der SPD bei weitem nicht immer so zementiert wie heute. Bei der Landtagswahl 1950 verdrängte sie die CSU stimmenmäßig sogar vom ersten Platz. Doch mittlerweile droht die Partei nach jahrzehntelanger Oppositionsarbeit nicht akut, aber scheinbar ungebremst in die landespolitische Irrelevanz abzusteigen. Auch wenn demoskopische Erhebungen oftmals Momentaufnahmen darstellen, je nach Institut und Auftraggeber abweichen oder in den Gremien gar auf Unverständnis stoßen: Wirklich überraschen können die jüngst erzielten Zustimmungswerte niemanden, der mit offenen Ohren hineingehört hat in die Partei und vor allem in die gesellschaftliche Mitte, ob jung oder alt. Dort, wo sich durch existenzielle Zukunftsängste zunehmend Verunsicherung breit gemacht hat.
Denn auf Landesebene konnte sich die Partei gar nicht richtig profilieren. Unter der Ägide der Führungsriege aus Florian Pronold, Natascha Kohnen und Markus Rinderspacher litt sie stets an einem fehlenden sozialdemokratischen Markenkern. Konsenspolitik mit der CSU im Bund einerseits und die fehlende Wahrnehmung in Bayern andererseits führten in Kombination mit wenig Selbstbewusstsein oder einer fehlenden Verteilungserzählung dazu, dass die Partei trotz Koalitionsvertragsabarbeitung in Berlin weder bundespolitisch noch landespolitisch erkennbar war. Vielmehr ist die bayerische SPD nach außen von einer Tagesaktualität zur nächsten gesprungen. Den inhaltlichen Tiefpunkt bildete die Pressemitteilung einer Gesundheitspolitikerin der Landtags-SPD mit der Kernbotschaft, dass Händewaschen vor Erkältungen schütze.
Glaubwürdigkeit stärken
Dabei gäbe es vielerlei landespolitische Hebel für mehr ArbeitnehmerInnenrechte und nicht nur gefühlte sondern echte Gleichstellung: Tariftreue, gesetzlicher Anspruch auf Bildungsurlaub, die Förderung von Sozialberufen oder die Einführung sozialer Mindeststandards in der Wirtschaftsförderung sind nur einige Beispiele einer bayerischen Gerechtigkeitsstrategie. Diese muss an der neuen Führungsspitze eine zentrale Rolle einnehmen und durch auf diesem Gebiet profilierte Persönlichkeiten glaubwürdig und selbstbewusst verkörpert werden.
Außerdem muss die wirtschaftliche Dynamik Bayerns genutzt werden, um regionale Ungleichgewichte schrittweise abzubauen und dabei natürliche Lebensgrundlagen zu schützen. Letzteres darf sich jedoch nicht nur darauf beschränken, wirtschaftliche Aktivität in Form größerer Projekte abzulehnen. Ein „sowohl-als-auch“ ist möglich: Tief im schützenswerten Bayerischen Wald war es schließlich kein Geringerer als der Sozialdemokrat Michael Adam, der als junger Bürgermeister unter anderem mit aktiver Tourismuspolitik seine krisengebeutelte Heimatgemeinde Bodenmais aus der Talsohle herausgeholt hat.
Eine auch mal zugespitzte Vertretung geschärfter politischer Standpunkte nach außen wäre zur Profilbildung gerade auf dem 2009 wiedereingeführten Generalsekretärsposten erforderlich. Dass jetzt ein Mitglied aus der dritten Reihe der Berliner Koalition künftig den Spagat zwischen Berlin einerseits und politisch fundierter Oppositionsarbeit in Bayern andererseits erfolgreich stemmen soll, darf zumindest infrage gestellt werden. Oppositionsmüde Nichtopposition.
Stillhalten gegenüber Berlin war offenbar auch dann das Rezept, als die Partei bundesweit bereits auf Werte von 20 Prozent zusteuerte. Und das, obwohl die Spitze der bayerischen SPD im Bundesvorstand, der größtenteils erweiterten Entourage des zurückgetretenen Vorsitzenden Sigmar Gabriel, unter den Stimmberechtigten prominent und doppelt vertreten gewesen wäre. Dabei hätte es der immerhin zweitgrößte Landesverband sicherlich durchgestanden, eigens initiierte Anstöße konsequent gegenüber der Bundespartei zu vertreten und gegebenenfalls durchzusetzen.
Eine ähnliche Folgenlosigkeit offenbarte sich aber auch auf den eigenen Rängen. Das Erscheinungsbild prägten Parteitage und Funktionärskonferenzen mit Beerdigungsstimmung, mit teils eingeschränkter, teils unterbundener programmpolitischer Debatte. Oder ein angeblich existierendes, als „Landeslinke“ bezeichnetes selbsternanntes Sammelbecken, das höchstens konspirative Sitzungen oder bestenfalls nicht mehr abrufbare digitale Namenslisten hervorgebracht hat. Politikverdrossenheit und Postdemokratie begannen in den Organen selbst, obwohl die Diskrepanz zwischen „dicker Luft“ an der Basis und Konformismus an der Spitze nicht mehr wegzudenken war.
Gelebte Demokratie
Die mit zunehmender Wahlmüdigkeit verbundene Routine des Machterhalts gipfelte schließlich darin, dass der scheidende Landesvorsitzende im selben Atemzug der medialen Nicht-Wiederantrittserklärung mit neronischem Daumen seine Generalsekretärin bereits zur gewünschten Spitzenkandidatin kürt. Wie in der Thronfolge einer monarchistischen Dynastie. Nicht von ungefähr kursieren in der politischen Berichterstattung, sobald es um Personalfragen geht, häufig vordemokratische Begrifflichkeiten wie Kronprinzen oder Kurfürsten.
Man muss es fünf weiteren engagierten bayerischen Parteimitgliedern auf jeden Fall hoch anrechnen, dass sie gegen diesen Defätismus kandidieren und dadurch eine Mitgliederbefragung ausgelöst haben. Und letztendlich ein beinahe weg gezüchtetes Verständnis von Demokratie und Partizipation wieder aufleben lassen. Prinzipiell, um aufzurütteln. Gegen die Bankrotterklärung vor der Alternativlosigkeit. Nicht nur der Ehrenrettung halber, sondern, um am Ende numerisch zu gewinnen. Für einen echten Neustart.
Ein glaubwürdigen politischen Neuanfang wagt übrigens derzeit auf Bundesebene: Martin Schulz. Mit ersten inhaltlichen Einlassungen, im Ansatz auch bei einem ArbeitnehmerInnenkongress der SPD jüngst in Bielefeld, hat er deutlich gemacht, dass er es nicht bei rhetorischen Akzenten belassen will, sondern die Botschaft der sozialen Gerechtigkeit mit klaren Kurskorrekturen unterlegt werden soll. Und weil es im nächsten Schritt auch für die Landespartei um die Mitgestaltung des Regierungsprogramms im Bund geht, ist ein entnervt wirkendes „zu den Akten legen“ des einstigen Agenda-Begriffs vonseiten der amtierenden Generalsekretärin hier wohl wenig angebracht. Ein vollständig erneuertes Führungstandem, das nicht mit den Hypotheken der Vergangenheit belastet ist, wäre dagegen nach acht Jahren ein hoffnungsvolles Aufbruchsignal. Und nicht zuletzt gefahrvoll für die populistische Übermacht der CSU.